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Gerhard Kruip

Den Horizont der Gerechtigkeit erweitern! 

Bei allen Gerechtigkeitsforderungen ist eine der wichtigsten Fragen die, wer überhaupt dabei berücksichtigt werden muss. Geht es um die Verteilung einer leckeren Nachspeise bei einem Essen in der Familie, müssen die anwesenden Familienmitglieder bedacht werden. Allenfalls kann man noch etwas davon aufheben für ein Mitglied der Familie, das später noch dazukommt und die Nachspeise auch probieren möchte. Bei einem Gerichtsverfahren müssen der Richter oder die Richterin für Fairness unter den Beteiligten sorgen. Bei Sportwettkämpfen müssen die Regeln für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung in gleicher Weise gelten, niemand darf benachteiligt oder bevorteilt werden.  

Eine recht anschauliche und für viele Fragen als Hilfsmittel des Nachdenkens taugliche Gerechtigkeitstheorie hat der US-amerikanische Philosoph John Rawls vorgelegt. Um herauszufinden, was Gerechtigkeit ist, fordert er zu einem Gedankenexperiment auf. Man stelle sich vor, Menschen versammelten sich in einem Urzustand, um dort die Regeln für ihr künftiges Zusammenleben festzulegen, wobei keiner weiß, wer er in der Zukunft als Teil dieser Gruppe sein wird. Dadurch sind alle gezwungen, sich in alle möglichen späteren Positionen hineinzuversetzen, und werden deshalb keinen Regeln zustimmen, die Einzelne oder Gruppen diskriminieren oder privilegieren. Sie kommen zu unparteiischen, zu fairen Regeln.  


Wer aber sind diese Urzustandsversammelten? Wer gehört zu dieser Gruppe, die ihr Zusammenleben in gerechter Weise organisieren will? Zur Idee der Fairness gehört sicher, dass alle diejenigen berücksichtigt werden müssen, die von Handlungen betroffen sind, für die Gerechtigkeitsregeln aufgestellt werden sollen. Jede Gruppe muss deshalb bereit sein, auch Nichtmitglieder in ihre Überlegungen und Beratungen einzubeziehen oder die Gruppe entsprechend zu erweitern, wenn jene durch Handlungen aus der Gruppe einen Schaden erleiden könnten. 

Seit dem Aufkommen von Nationalstaaten wurden viele Gerechtigkeitsfragen als Themen betrachtet, die nur die Mitglieder dieser Nationen betreffen. Von besonderer Bedeutung sind dabei Fragen der sozialen Gerechtigkeit. So halten es die meisten Menschen in Deutschland für gerecht, dass die Einkommen nach der Leistungsfähigkeit der Bürger/innen progressiv besteuert werden, um es dem Staat zu ermöglichen, öffentliche Güter, die allen nutzen, bereitzustellen. Verschiedene Sozialversicherungen sind Solidarsysteme, die die allgemeinen Lebensrisiken abdecken sollen. Wer seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen kann, soll aus Gerechtigkeitsgründen trotzdem genug zum Leben haben und bekommt Arbeitslosengeld oder Bürgergeld. Es wird aber als ungerecht empfunden, wenn diejenigen, die arbeiten könnten, trotzdem Leistungen des Staates in Anspruch nehmen. Gleichheit und Differenz stehen dabei in einem komplexen Verhältnis: Strenge Forderungen der Gleichheit gelten beim allgemeinen Wahlrecht und der „Gleichheit vor dem Gesetz“.

Auch gilt der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, vor allem im Vergleich von Frauen und Männern. Wer aber sehr viel arbeitet, eine gesellschaftlich besonders wichtige Arbeit leistet und dafür hoch qualifiziert sein muss, darf mehr verdienen – wobei extreme Einkommensungleichheiten auch wieder als ungerecht empfunden werden. Ein genaues Maß für gerechtfertigte Ungleichheiten ist schwer festzulegen. Auf jeden Fall setzt Leistungsgerechtigkeit, die notwendigerweise zu ungleichen Einkommen führt, Chancengerechtigkeit und damit Bildungsgerechtigkeit voraus.  


Spätestens seit den Zeiten des Kolonialismus und des Imperialismus und den damit verbundenen globalen Abhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen stellen sich Gerechtigkeitsfragen aber auch im Verhältnis der Nationen oder Staaten untereinander. In der katholischen Denktradition gilt, dass die von Gott geschaffene Erde für alle Menschen da ist, dass alle Menschen Kinder Gottes sind und deshalb innerhalb dieser Menschheitsfamilie Gerechtigkeit herrschen sollte. So wurde in der Enzyklika Pacem in terris von 1963, der „Menschenrechtscharta der katholischen Kirche“, die Solidarität der gesamten Menschheitsfamilie eingefordert [1]. Schon Mater et magistra (1961) hatte von der wachsenden Verflechtung der Menschen untereinander gesprochen, die heute so eng geworden sei, „daß sie sich gleichsam als Bewohner ein und desselben Hauses vorkommen“ [2]. Die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, geht von einer recht nüchternen Feststellung aus, um globale Gerechtigkeit einzufordern: „Aus der immer engeren und allmählich die ganze Welt erfassenden gegenseitigen Abhängigkeit ergibt sich als Folge, dass das Gemeinwohl, d. h. die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen, heute mehr und mehr einen weltweiten Umfang annimmt und deshalb auch Rechte und Pflichten in sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen. Jede Gruppe muss den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen, ja dem Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie Rechnung tragen.“ [3]  

Wenn heute durch die Globalisierung alle Teile der Welt immer stärker voneinander abhängig werden, wenn das Wirtschaften in den einen Ländern Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten in anderen Ländern hat, wenn sich durch die ungebremsten Treibhausgasemissionen die Erde erhitzt und dadurch die Zukunft mindestens von Teilen der Menschheit gefährdet ist, dann gehören alle Menschen, die heute und in Zukunft auf der Erde leben zu der Gruppe, die bei der Festlegung und Umsetzung von Gerechtigkeitsforderungen berücksichtig werden müssen. Eine Atmosphäre mit einem Treibhauseffekt, der weder zu gering noch zu stark ausfällt, um das Leben auf dieser Erde weiterhin zu ermöglichen, ist ein gemeinsames öffentliches Gut der gesamten Menschheit, dass sie auch nur gemeinsam schützen kann. Besonders die reicheren Industriestaaten haben in der Vergangenheit zum Anstieg von Treibhausgasen beigetragen, die zu einer gefährlichen Erderwärmung führen. Der Deutsche Ethikrat qualifiziert diese hohen historischen Emissionen in seiner Stellungnahme zur Klimagerechtigkeit vom März 2024 „als eine Form der illegitimen Aneignung atmosphärischer Gemeingüter“ [4] und verlangt von den Industriestaaten deutlich größere Anstrengungen. Sie müssen ihren Treibhausgasausstoß reduzieren – allein schon aus Eigeninteresse, aber auch, weil es nicht zu rechtfertigen und auch politisch gar nicht durchzusetzen wäre, die Lasten allein den ärmeren Ländern aufzubürden, die bisher am wenigsten zur hohen Konzentration von Treibhausgasen beigetragen haben. Dabei dürfe der Verweis darauf, dass die anderen zu wenig tun, nicht dazu führen, in den eigenen Anstrengungen nachzulassen: Es wäre „unverantwortlich, auf nationale und europäische Klimaschutzmaßnahmen nur deshalb zu verzichten, weil die weltweite Umsetzung entsprechender Maßnahmen noch nicht gesichert erscheint.“ [5] 


Wendet man diese Überlegungen auf die Landwirtschaft und die Ernährung an, dann ist eigentlich völlig klar: Ein Fleischkonsum, der mit hohen Treibhausgasemissionen verbunden ist und zudem durch die Notwendigkeit des Anbaus von Tierfuttermitteln die Bekämpfung des Welthungers behindert, lässt sich genauso wenig rechtfertigen wie eine Landnutzung, die zur Bodenerosion oder Bodendegradation beiträgt und es künftigen Generationen erschwert, diesen Boden für ihre eigene Ernährung zu nutzen. Auch eine Landwirtschaft, die zum Artensterben beiträgt und damit die Stabilität der Ökosystem der Erde gefährdet, kann nicht richtig sein. Das ist eigentlich sofort einsichtig, wenn man sich wieder in das Gedankenexperiment von John Rawls versetzt: Würden wir die aktuellen Konsummuster der reicheren Teile der Weltbevölkerung billigen, wenn wir uns in die Situation eines armen Kleinbauern im Nordosten Brasiliens hineinversetzen, dessen Existenz u.a. durch Dürre- und Hitzeperioden zunehmend gefährdet wird? Wären wir mit diesem Verhalten einverstanden, wenn wir auf einer der Inseln im Ostpazifik zuhause wären, deren Existenz durch das Ansteigen der Meeresspiegel bedroht ist? Wären wir mit dem bisherigen westlichen Lebensstil einverstanden, wenn wir uns in die Situation unserer Ur-urenkel hineinversetzen, die zum Ende dieses Jahrhunderts die volle Wucht der Erderhitzung zu spüren bekommen werden? Nein, selbstverständlich nicht. Also müssen wir jetzt etwas ändern! 


 

Prof. i.R. Dr. Gerhard Kruip war von 2006 - 2024 Univ.-Prof. für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) Mainz. In dieser Zeit arbeitete er zudem als Berater für zahlreiche Komissionen wie die der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz oder die Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik, in welcher er immmer noch aktiv ist.

 

Hier erfahren Sie mehr zum aktuellen Projekt der Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik!


Quellen 


[1] PT – Papst Johannes’ XXIII (1963): Pacem in terris, 132. 

[2] MM – Papst Johannes’ XXIII (1961): Mater et magistra , 157. 

[3] GS – Zweites Vatikanisches Konzil (1965): Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 26. 

[4] Deutscher Ethikrat (2024): Klimagerechtigkeit, 66. 

[5] Ebd., 93f. 

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