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Fürsorgliches Handeln als zukunftsfähiges Konzept

Dr. Alexander Braml

Wenn wir Menschen auf der Straße ansprechen und fragen würden: „Handeln Sie im Leben bewusst zum Schaden Ihrer Kinder oder Enkel?“, würden sicherlich die wenigsten Befragten darauf mit „ja“ antworten. Die Sorge um ihre eigenen Nachkommen überwiegt bei den meisten Menschen. Auch Befragte ohne eigene Kinder und also mit einem offeneren und eher abstrakten Bezug auf nachfolgende Generationen, würden eine solche Frage wohl mehrheitlich verneinen.


Wenn wir das plakative Beispiel der Klimakrise heranziehen, findet tagtäglich dennoch genau das Gegenteil statt. Die irreversiblen Kippunkte im Rahmen der globalen Erderwärmung sind wohl bald erreicht oder gar schon überschritten. Diese Entwicklungen werden, so alle Prognosen, erhebliche negative Auswirkungen schon auf unser eigenes, vor allem aber auf künftiges Leben mit sich bringen. Über das Wissen darüber verfügen wir. Dennoch bleibt oft genug eine Diskrepanz, eine Kluft also, bestehen: Einerseits haben wir dieses Wissen um diese Zusammenhänge und auch den Wunsch, wenigstens die eigenen Kinder oder sogar künftige Generationen allgemein nicht schädigen zu wollen. Andererseits handeln und verhalten wir uns selbst oft genug diesem Wunsch zuwiderlaufend und können täglich ebensolche gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen und politischen Entscheidungen und Entwicklungen beobachten.Warum aber unterscheiden sich das Wissen um Zusammenhänge und unsere tatsächlichen Handlungen, vor allem, wenn die Konsequenzen daraus in der Zukunft liegen? Und gibt es ein Konzept, das uns dabei unterstützen kann, die thematisierte Kluft auch zugunsten künftiger Generationen zu schließen?


Der Forschungsbereich der Zukunftsethik beschäftigt sich mit genau diesen Fragestellungen. Neben dem Verantwortungsbegriff werden Rechte und Pflichten künftiger Generationen, Bezüge intergenerationeller Gerechtigkeit, der Aspekt des Erbes, das wir hinterlassen oder Aspekte der Generationensolidarität untersucht und diskutiert. Ein Kernproblem der Zukunftsethik stellt dabei das Motivationsproblem dar. Je weiter entfernt wir die Menschen künftiger Generationen in persönlicher, räumlicher und zeitlicher Perspektive von uns selbst wahrnehmen, desto weniger sind wir motiviert, mit unseren Handlungen Rücksicht auf diese als abstrakt empfundenen Entitäten zu nehmen. Gleichzeitig unterliegen wir im Leben diversen externen Zwängen, sehen uns selbst in unser Leben und damit in eine bestehende Wirklichkeit „geworfen“ und haben oft genug das Gefühl, diese Situation nur in geringem Maße beeinflussen zu können.           Wie lässt sich dann also dennoch die Motivation fördern, dass wir Menschen uns nicht nur um unsere Nächsten sorgen, sondern unsere Handlungen auch nachhaltig und konkret auf das Wohlergehen künftiger Generationen ausrichten?


Theoretische ethische Konzepte helfen den meisten Menschen zur Beantwortung dieser Fragen nicht weiter. In der akademischen Welt werden zwar unzählige abstrakte Themen diskutiert: Stellen Tugenden ein eigenes ethisches Paradigma dar oder sind diese allenfalls eine Nebenbedingung deontologischer oder utilitaristischer Strömungen? Gibt es den tugendhaften Menschen an sich oder den Menschen, der seine sittliche Pflicht niemals verletzt? Welche Normen halten einer Untersuchung nach pflichtethischen Kriterien stand? Wie lassen sich Kriterien wie „gut“ oder „schlecht“ begründen?   Die akademische Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Fragestellungen ist wichtig, notwendig und von vielfältigen interessanten Debatten geprägt. Für das Leben der meisten Menschen spielt das alles in ihrem Lebensalltag mit unzähligen inneren und externen Zwängen allerdings keine Rolle. Viele Begriffe, wie der Tugendbegriff, wirken zudem oftmals „angestaubt“ und abschreckend und Verbote oder ethische Gebote gehen mit unguten Gefühlen und innerer Abwehr einher.


Als sehr lebensnahes ethisches Konzept hat sich im Zuge dessen die Fürsorge- bzw. Care-Ethik etabliert. Selbstverständlich wird auch diese Strömung akademisch erforscht und diskutiert. Dennoch kann die Fürsorgeethik mehrere konkrete Ansatzunkte für sich in Anspruch nehmen, die über den theoretisch-abstrakten Raum hinausreichen und die sie lebenswirklich werden lassen: Den fürsorglichen Blickwinkel nehmen wir als Menschen in unserem Leben ganz konkret und unmittelbar ein. Wie agieren schon immer eingebunden in soziale Bezüge und Beziehungen. Fürsorge ist biologisch in uns angelegt und gleichzeitig sind der Gedanke und die Notwendigkeit, sich um andere zu sorgen, kulturell vermittelt. Das Wissen um die wechselseitige Verletzlichkeit oder auch ein gespürtes und gelebtes Verantwortungsgefühl sowie gegenseitige Liebe und Anteilnahme leiten die meisten Menschen also im Zusammenleben mit anderen. Es geht dabei dann eben nicht um die Überlegung, ob wir jetzt tugendhaft handeln müssen oder wie wir anderen abstrakten ethischen Prinzipien Genüge tun sollten. Fürsorgliche Aspekte spielen vielmehr in unserem tagtäglichen Leben, auch in körperlicher Nähe zu anderen Menschen, eine Rolle und finden oft unbewusst, konkret und unmittelbar in der jeweilig erlebten Situation statt. Wir sind also unhinterfragt motiviert, uns um unsere Nächsten zu sorgen.         

Kommen wir aber zurück auf die Herausforderung, wie wir diese Motivation der Nahsorge auch auf künftige Generationen auf unserer Erde sowie auf das Dasein nach unserem eigenen Leben übertragen können.    Mit dem bereits erwähnten Motivationsproblem in der Zukunftsethik gehen weitere Unwägbarkeiten einher: Wir können heute noch nicht wissen, welche Bedürfnisse künftige Menschen haben, welche Wünsche, Sehnsüchte, Ideen, Interessen, welches Risikobewusstsein oder welche Wertvorstellungen dereinst vorherrschen werden. Es wäre auch anmaßend, heute prognostizieren zu wollen, was unsere Kinder und Kindskinder einmal unter einem glücklichen Leben verstehen werden. Gleichzeitig kann niemand von uns verlangen, ausschließlich zu Gunsten künftiger Generationen und gegen unser eigenes (begründetes) Selbstinteresse handeln zu müssen. Dennoch unterliegen wir weitgehend dem Wunsch sowie auch der Verantwortung, Sorge zumindest für die Chance zu tragen, dass auch künftig in einem noch offenen Sinne gutes Leben auf der Erde möglich bleibt.


Um Aspekte der Langfristvorsorge, des Erbes, das wir hinterlassen wollen, der Generationengerechtigkeit oder heute noch abstrakter Lebenssituationen (die wir selbst vielfach gar nicht mehr erleben werden) auch motivational zu stärken, plädiere ich daher für ein Leben in Sorge zur Fürsorge. Wir hinterlassen eine Welt, die durch kurz-, mittel- und langfristige Folgelasten gekennzeichnet ist. Hier können wir an tagespolitische Entscheidungen und ökonomische Entscheidungen denken, wie ebenso an Industriegifte, den Atommüll oder unser oben thematisiertes Beispiel der Klimakrise mit allen erwartbaren negativen Auswirkungen. Sorgsamer Umgang mit unseren Nächsten leitet uns im Leben und stellt einen Wert an sich dar. Und diese Sorge kann – insofern wir diese eben als Wert auch anerkennen – erhebliches Potential in die Zukunft und damit auf unser Erbe entwickeln.

Viele Menschen treffen heute in ihrem Alltag bereits konkrete Entscheidungen und Handlungen unter Für- und Vorsorgeaspekten. Auch erleben und gestalten wir heute schon viele politische und gesellschaftliche Ideen und Entwicklungen der Veränderung, trotz erheblicher Gegenbewegungen. Um die Akzeptanz dieser notwendigen und teilweise erheblichen Veränderungen weiter zu stärken, hat sich der Begriff der sozial-ökologischen Transformation etabliert. Hier können wir beispielsweise an den nachhaltigen Umbau der Energieversorgung, an die verursachergerechte Bepreisung des CO2-Ausstoßes oder an den Schutz der Biodiversität denken. Zwischenzeitlich wird der Begriff jedoch umfassender gedacht und diskutiert und bezieht ebenso Aspekte der Agrar-, Mobilitäts- und Konsumwende mit ein. Um Menschen zur Änderung heutigen Handelns sowie zur Übernahme von Langfristverantwortung zu motivieren, gilt es gleichzeitig, die Folgen dieser Veränderungen heute und in Zukunft sozial und damit wiederum fürsorglich abzufedern.

Drei Aspekte sind aus meiner Sicht unumgänglich, das Bewusstsein dafür zu schaffen, die Menschen auf dem beschriebenen Weg mitzunehmen und damit die Motivation zu stärken, ein Leben in Sorge zur Fürsorge auch für künftige Generationen zu gestalten: Erstens sind wir aufgefordert, als Vorbilder für heute und für morgen zu agieren. Zweitens besteht die Verpflichtung, Menschen über Bildungsprozesse die Entwicklung zur Erkenntnis der Notwendigkeit zukunftsfürsorglichen Handelns zu ermöglichen. Positive Geschichten, die wir uns erzählen und die wir weitertragen, wirken zudem in und für die Zukunft. Daher sollten wir uns drittens überlegen, welches Erbe wir hinterlassen sowie welche Geschichten des guten Lebens wir uns und unseren Nachfahren erzählen wollen.

 

Dr. Alexander Braml ist Dozent und Lehrbeauftragter an Universität und Hochschule sowie in der Erwachsenenbildung. Zudem leitet er das Unternehmen LOGOS Strategie, die sich den Fragen rund um gute Unternehmungsführung aus der Perspektive der Nachhaltigkeit, Sinnstiftung und dem Wunsch nach Bedeutsamkeit der eigenen Arbeit widmen.

 

Dieser Blogeitrag ist eine verkürzte und bearbeitete Fassung des wissenschaftlichen Aufsatzes „Die Sorge für Fürsorge. Eine care-ethische Annäherung an das Motivationsproblem in der Zukunftsethik“, erschienen in der Zeitschrift für Praktische Philosophie, Band 11, Heft 2 (2024); online abrufbar hier: https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/article/view/517/453 


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